Andy Murrays Entwicklung
2012 ist das
Jahr, in welchem Andy Murray der ganz grosse Durchbruch gelungen ist.
Der Brite zählt seit Jahren zur Weltspitze und hatte in der
Weltrangliste Platz 4 gewissermassen abonniert hinter Federer, Nadal und
Djokovic. Vom spielerischen Potential her hat man ihm jedoch schon lange
zugetraut den ganz grossen Wurf zu realisieren, doch Murray scheiterte
in der Vergangenheit oft an sich selbst. In den entscheidenden Spielen
blieb er unter seinen Möglichkeiten. Auf dem Platz sah man viele
negative Reaktionen, wenn Murray mit seinem Spiel haderte, die
Konzentration und den Glauben an seine Fähigkeiten verlor.
Seit Beginn
des Jahres hat Andy Murray eine Veränderung in seinem Umfeld
vorgenommen und arbeitet seither mit der einstigen Tennisgrösse Ivan
Lendl zusammen. Und siehe da: bereits nach einigen Wochen war bei Murray
ein Wandel zu erkennen. Bei den Australien Open scheiterte er zwar in
einer dramatischen und hartumkämpften 5-Satz-Partie an Novak Djokovic
und doch war Murrays Auftreten ein ganz anderes. Die Körpersprache war
positiver, die negativen Selbstgespräche waren weit weniger zu sehen,
er wirkte fokussierter und mit dem Glauben eine Partie noch wenden zu
können.
Auf der
anschliessenden Pressekonferenz bestätigte Murray diese Eindrücke: Er
sei verglichen mit dem Vorjahr ein anderer Spieler mit einer anderen
Einstellung und er sei stolz wie er bis zuletzt gekämpft habe.
"But a
different player, a different attitude to this time last year.
Yeah, I'm proud of the way I fought."
Und auch Novak
Djokovic fiel dieser Wandel auf. Murray sei selbstbewusster aufgetreten
wie in der Vergangenheit und er nutze nun seine Chancen besser:
"He was
more confident on the court. He was
taking
his chances."
Doch Wege
verlaufen selten linear. Es gibt oft Hindernisse auf diesem Weg,
Rückschläge - es gibt keine Erfolgsgarantie.
Die Folgemonate
verlaufen eher enttäuschend. Ist der Zauber der Zusammenarbeit bereits
verflogen? - Auf die Erfolgsspur findet Murray just in Wimbledon
zurück. Dort begeistert er das britische Publikum und erreicht das
Finale. Abermals trifft er dabei auf Roger Federer und auch in seinem 4.
Grand-Slam-Finale hat Murray schliesslich das Nachsehen. Trotz starker
Leistung unterliegt er in vier Sätzen einem grossartig aufspielenden
Gegner. In der Presse wird die Frage aufgeworfen, ob Murray diese
Niederlage wird verkraften können oder ob er daran zerbrechen wird. Erneut
beim letzten Schritt gescheitert und es gibt Stimmen, welche
prophezeien, dass Murray nie einen ganz grossen Titel gewinnen werde.
Doch wer genauer hingeschaut hat, konnte erkennen: das Auftreten von
Murray war in diesem Grand-Slam-Finale ein anderes als bei den ersten
drei Anläufen in den Jahren zuvor. Es fehlte dieses Mal nicht viel - etwas mehr
Wettkampfglück auf seiner Seite und die Briten hätten bereits dann zum
grossen Jubel ansetzen können.
Kurz darauf
folgten die Olympischen Spiele. Da diese in London ausgetragen wurden,
kam es zur Kuriosität, dass bereits drei Wochen nach dem Wimbledon-Finale an der
selben Stätte erneut ein grosses Turnier anstand.
Bald zeigte
sich: Von Finalnachwehen bei Murray keine Spur. Er zeigte sich in
blendender Spiellaune. Im Halbfinale setzte er sich in zwei Sätzen
gegen Novak Djokovic durch und agierte voller Selbstvertrauen. Im Finale
kam es dann zur Neuauflage gegen Federer. Es winkte olympisches Gold vor
heimischem Publikum. Doch würde Murray der Aufgabe gewachsen sein und
auch im Finale sein Potential ausschöpfen können? - Murray
beantwortete die Frage eindrücklich. Zur Überraschung aller war das
Endspiel eine ganz einseitige Angelegenheit. Beim Briten funktionierte
so gut wie alles, währenddem Federer einen insbesondere mental
ausgelaugten Eindruck hinterliess. Andy Murray hatte es geschafft und
gezeigt, dass er mental stärker geworden ist.
Einige Wochen
später gewann Andy Murray dann auch endlich sein erstes
Grand-Slam-Turnier mit einem Sieg bei den US Open. Auf dem Weg zum
Triumph hatte er im Viertelfinale gegen den Kroaten Marin Cilic bange
Momente zu überstehen, als er mit 3:6 und 1:5 in Rückstand lag. Bis zu
diesem Zeitpunkt funktionierte nicht viel. Doch Murray steckte nicht
auf, zeigte seine kämpferischen Qualitäten und konnte den 2. Satz in
extremis noch zu seinen Gunsten entscheiden. Von da an war er
unangefochten und qualifizierte sich für das Halbfinale. Nach einem
Erfolg über Tomas Berdych in einem Spiel, das vom Wind stark
beeinträchtigt wurde (wie auch das Finale), qualifizierte er sich erneut für ein
Grand-Slam-Finale. Sein fünftes und mit Novak Djokovic wartete abermals
ein hochkarätiger Gegner. Doch Murray liess auch seine letzten Kritiker
verstummen. Nach einer 2:0 Satzführung musste er zwar den Ausgleich
hinnehmen, doch im entscheidenden fünften Satz zeigte er seine
verbesserte mentale Stabilität und Wettkampfhärte, welche ihm lange
abgesprochen wurde. Durch ein frühes Break rasch in Führung liegend,
durchbrach er das Momentum von Djokovic und legte den Grundstein für
seinen Sieg. Es war geschafft - nach 1936 und dem legendären Fred Perry
hatte endlich wieder ein Brite einen Grand-Slam-Titel im Einzel
gewonnen. Murray sprach unmittelbar nach dem Triumph denn auch von einer
"Erleichterung", welche er hauptsächlich verspüre. Laufend
wurde er auf Fred Perry in den letzten Jahren angesprochen - doch diese
Fragen gehören nun der Vergangenheit an. Das "endlose" Warten
auf einen britischen Grand-Slam-Sieger hat ein Ende gefunden.
Video-Link: Interview
Andy Murray nach dem Gewinn der US Open
Zwischen Lendl
und Murray gibt es übrigens eine verblüffende Parallele. Auch Lendl
hatte seine ersten vier Grand-Slam-Endspiele verloren und wurde bereits
als ewiger "Zweiter" abgestempelt. Wie Murray holte er im
fünften Anlauf seinen ersten grossen Pokal. Vielleicht ist genau diese
Gegebenheit einer der Faktoren für die erfolgreiche Zusammenarbeit der
beiden. Fast niemand konnte wohl aufgrund der eigenen Erfahrungen so gut
nachempfinden, in welcher Situation Murray steckte, wie Ivan
Lendl.
Lendl, der fast
nie Interviews gibt und sich 18 Jahre lang bei Tennisturnieren nicht
mehr blicken liess, äusserte zu Beginn der Zusammenarbeit: "Er
braucht mich nicht, um ein Halbfinale zu erreichen". Ziel sei
es den letzten Schritt zu gehen. Und schon früh hatte Lendl erkannt: "Tennis
ist auch Psychologie, vor allem wenn man gegen jemanden spielt, der ganz
oben steht."
Was zeigt uns
der Weg, den Murray gegangen ist? Wie er es selbst bereits zu Beginn des
Jahres treffend formuliert hat.
"Er sei ein anderer Spieler."
Dieses
"anders" bezieht sich auf den mentalen Bereich. Darin hat sich
Murray weiter entwickelt, indem er sich eine positivere Einstellung zum Spiel
angeeignet hat, mehr seinen Stärken vertraut und fokussierter auf dem Platz ist
als früher. Murray hat gewissermassen das Puzzle komplettiert und die
"mentale Lücke" zu Federer, Djokovic und Nadal geschlossen.
Ivan Lendl scheint bei diesem Prozess eine grosse Hilfe gewesen zu sein.
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